Interview

Interview: Paul Dieter Haebich

Der Algorithmus und die Seele: Ein Gespräch über Kunst, KI und die menschliche Blase


Paul Dieter Haebich: Wenn ich über die Schnittstelle von KI und Kunst nachdenke, stoße ich auf einen fundamentalen Gegensatz. Wir, als organische Wesen, sind Gefäße gelebter Erfahrung. Unsere Kreativität entspringt einem Schmelztiegel aus Empathie, Leidenschaft und emotionaler Unruhe. Sie ist chaotisch, subjektiv und untrennbar mit unseren Körpern verbunden – dem Schmerz einer Herzensepisode, der Wärme der Nostalgie, der stillen Ehrfurcht bei einem Sonnenuntergang. Die KI hingegen ist in ihrer jetzigen Form eine sublime Mustererkennungsmaschine, die sich der Leinwand ohne jede Biografie nähert. Sie hat keine Kindheitserinnerungen, keine unerwiderten Lieben, kein kulturelles Erbe, das über Generationen weitergegeben wurde. Daher müssen wir uns, was immer wir mit ihr oder an ihrer Seite erschaffen, stets des ‚menschlichen‘ Kontexts bewusst bleiben – der sozialen, kulturellen und letztlich emotionalen Bedeutungen, die keine statischen Datenpunkte, sondern ein lebendiges, atmendes, sich entwickelndes Kontinuum sind. Kunst ist nicht nur ein Ergebnis; sie ist das Überbleibsel eines Lebens im Fluss.

Alexander von Hahn: Ganz genau, und genau dort liegt die tiefgreifende Gefahr einer rein visuellen Intelligenz. Sie überbrückt nicht unsere individuellen Erfahrungen; sie riskiert, unsere Isolation zu automatisieren. Meine Angst ist, dass wir alle in unserer eigenen maßgeschneiderten Realität gefangen sind, in unserer eigenen ästhetischen Blase. Es ist ein surreales Bild: die Menschheit läuft mit personalisierten Goldfischgläsern auf den Köpfen umher, jedes gefüllt mit Wasser, das auf unsere exakten Vorlieben zugeschnitten ist, und wir sehen die Welt nur durch das verzerrte, schützende Glas unserer eigenen kuratierten Algorithmen.

Haebich: Und diese Personalisierung ist auf hinterlistige Weise süchtig machend. Der Algorithmus lernt unsere Vorlieben so perfekt, dass er uns einen endlosen Strom von dem liefert, was wir bereits kennen und lieben. Es ist eine kreative Echokammer, die unsere Vorurteile bestätigt und unser bestehendes Empfinden schmeichelt, ohne uns jemals herauszufordern, in unbekannten Gewässern zu schwimmen.

von Hahn: Heißt das nicht, dass KI diese Zersplitterung exponentiell beschleunigen wird? Wir kuratieren nicht länger nur unsere Nachrichtenfeeds; wir sind dabei, unsere Vorstellungskraft selbst auszulagern. Wir könnten am Ende ganze Universen konstruieren – schöne, technisch makellose Universen –, die mit nichts verbunden sind außer mit dem Feedbackloop unserer eigenen Fantasien, ohne gemeinsame Bezugspunkte oder kollektive Bedeutung.

Haebich: Diese Metapher der Blase ist verheerend treffend. Der wahre gesellschaftliche Zusammenbruch findet nicht statt, wenn es Blasen gibt, sondern wenn ihre Bewohner nicht mehr gewillt sind, außerhalb von ihnen zu kommunizieren. Es wird ein geschlossenes System, eine Art… ästhetischer Kannibalismus. Die Menschen konsumieren am Ende nur das, was sie selbst produziert haben oder was ihr unmittelbarer Kreis produziert. Es ist ein Kreislauf aus Schöpfung und Konsum, der niemals etwas Neues aufnimmt, niemals hinausgeht, um Nahrung zu finden. Alles wird innerhalb des Systems recycelt und wird zunehmend steril.

von Hahn: Aber ist das denn ein neues Phänomen? Waren Künstler nicht immer schon anfällig dafür? Ich schaue auf den zeitgenössischen Kunstmarkt und sehe unzählige Künstler, die eine erfolgreiche Formel finden und sich dann endlos reproduzieren. Sie werden zu einer Marke, und die Arbeit wird zu einer Produktlinie mit geringfügigen, berechneten Variationen.

Haebich: Es herrscht immenser Druck, besonders auf die Jungen, genau das zu tun. Ich erlebe es bei Absolventen der Akademie. Oft sind es Paare, die sich gegenseitig unterstützen – ein Künstler und ein Musiker – und sie haben diesen ersten, aufregenden Erfolg in einer Galerie. Bevor sie 35 sind, werden sie von Galeristen als ‚junge Talente‘ gejagt. Doch dieses Zeitfenster ist furchtbar klein. In dem Moment, in dem sie ein Mindestmaß an Erfolg haben, zwingt sie der Marktdruck, ihn durch Wiederholung zu verstärken. Immer dasselbe zu produzieren, in nur geringfügigen Variationen, um die von ihnen geschaffene Nachfrage zu bedienen. Es würde mich zu Tode langweilen, aber ich stehe inzwischen außerhalb dieses Spiels. Ich bin, nach ihren Maßstäben, zu alt dafür.

von Hahn: Das ist faszinierend, denn Sie haben relativ spät mit der Malerei begonnen. Wie ist es Ihnen gelungen, dieses System zu umgehen?

Haebich: Einfach indem ich meine Arbeit so gut ich konnte verrichtet habe, mit einem Fokus, der eher nach innen als nach außen gerichtet war (image mentale). Aber um zu illustrieren, wie systemisch das ist: Wissen Sie, was man oft einreichen muss, wenn man seine Mappe an eine Galerie schickt? Sein Alter. Sein Geschlecht. Es ist ein Filter. Ich bin derzeit der Prototyp des Veralteten: ein alter weißer Mann. Das ist absolut aus der Mode. Ich bin weder schwul, noch transgender, oder irgendeine Kombination daraus, die meine Biografie im aktuellen Klima kommerziell lesbarer oder ‚interessanter‘ machen könnte.

Und dahinter verbirgt sich die nüchterne Ironie: Auch wenn die Absicht, diverse Stimmen zu suchen, edel ist, verbessert dieser Kästchen-abhaken-Ansatz nicht die *Qualität* der Kunst. Er ändert nur das Etikett auf der Flasche. Wir haben einen Satz starrer Kriterien durch einen anderen ersetzt, während wir weiter an der marktgetriebenen Täuschung festhalten, dass sich der Wert von Kunst durch Demografie oder Trends beziffern ließe. Wir schaffen neue Blasen, selbst während wir behaupten, die alten zum Platzen zu bringen. Die wahre Herausforderung, für den Künstler wie für die betrachtende Gesellschaft, ist es, zu lernen, den Menschen *durch* die Biografie zu sehen, und die Kunst durch die Seele, die sie erschaffen hat – ob diese Seele nun menschlich ist oder, eines Tages, etwas Komplexeres.
Kloster Zscheiplitz, 23.9.2025
2025-10-09 23:20